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Lange fühlten wir uns in Deutschland wie auf einer Insel der Seligen. Während in Polen, den USA und zuletzt in Israel die Unabhängigkeit der Justiz unter Beschuss ist, sind wir gesegnet mit einem starken Verfassungsgericht. Es hat sich über die Jahrzehnte als ausgewogen und unabhängig erwiesen; in der Bevölkerung hat es sich ein immenses Vertrauen erarbeitet. Doch die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts steht auf tönernen Füßen. Nun ist auch in der Öffentlichkeit die Debatte entbrannt, ob und wie man die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts schützen sollte. Dazu kann der Blick in andere Rechtsordnungen etwas beitragen. Er zeigt, dass es womöglich nicht ausreicht, Eckpfeiler der aktuellen Gerichtsverfassung im Grundgesetz festzuschreiben. Ein prozeduraler Schutz für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz wäre eine wichtige Ergänzung.
Warum mehr Schutz?
Mit einer einfachen Bundestagsmehrheit könnte man das Bundesverfassungsgericht weitreichend parteipolitisch instrumentalisieren. Mehr brauchte es auch in Polen und in den USA nicht. Sowohl die polnische PiS als auch die US-amerikanischen Republikaner konnten mit einer einfachen Parlamentsmehrheit durch – zumindest formal rechtmäßige – Maßnahmen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der obersten Gerichte untergraben. In Polen wurden Richter früher in den Ruhestand geschickt und neue Spruchkörper geschaffen. Die auf diese Weise frei gewordenen Richterstellen hat die PiS unter Anwendung eines neuen Wahlverfahrens mit ihren Kandidaten besetzt. Auch in den USA wurde das Wahlverfahren einseitig verändert. Am Anfang standen mehrere Blockaden der Richternachbesetzung durch die Republikaner, die dazu führten, dass die Demokraten die erforderliche Mehrheit für die Wahl der Bundesrichter senkten – allerdings lediglich für Richter unterhalb des Supreme Court docket. Als Reaktion senkten die Republikaner auch für dieses Gericht die erforderliche Mehrheit. Nur so konnten sie am Supreme Court docket eine 2/3-Mehrheit von streng konservativen Richtern etablieren. Das Vertrauen der Bevölkerung in das Gericht hat inzwischen einen Tiefpunkt erreicht.
In Deutschland ließe sich das nachahmen. Das Grundgesetz enthält in Artwork. 94 nur wenige Vorgaben zur Organisation des Bundesverfassungsgerichts: So sind die Zahl der Senate und Richter, die Amtszeit oder die erforderliche Wahlmehrheit nicht verfassungsrechtlich vorgegeben. Dabei handelt es sich indes um Eckpfeiler der verfassungsgerichtlichen Unabhängigkeit. Dennoch regelt sie erst das Bundesverfassungsgerichtsgesetz(BVerfGG) – ein einfaches Gesetz, dessen Änderung noch nicht einmal der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Eine einfache Mehrheit im Bundestag würde additionally ausreichen, um diese Eckpfeiler einzureißen.
Wir sollten das Bundesverfassungsgericht daher besser schützen. Eine einfache Parlamentsmehrheit sollte es nicht parteipolitisch vereinnahmen können. Denn das würde die Gewaltenteilung gefährden. Sie soll unter anderem verhindern, dass eine Regierung mit einfacher Mehrheit „durchregieren“ kann. Entwicklungen wie in Polen oder den USA müssen von Anfang an verhindert werden. Vertrauen in Institutionen, in ihre Unabhängigkeit und Integrität wird sehr viel schneller zerstört als wieder aufgebaut. Auch das ist in unserem Nachbarland zu beobachten.
Prozeduraler Schutzansatz
Die gegenwärtigen Diskussionsbeiträge zielen vorrangig darauf, konkrete Vorgaben für die Organisation und Besetzung des Bundesverfassungsgerichts in das Grundgesetz aufzunehmen.1) Einen solchen Ansatz verfolgen auch andere Verfassungen, so etwa die griechische, die in Artwork. 87-100a sehr detaillierte Vorgaben zur Judikative enthält. Diskutiert wird in Deutschland insbesondere, die Zahl der Senate und deren Größe, die zwölfjährige Amtszeit, das Verbot einer Wiederwahl und die 2/3-Mehrheit zur Richterwahl im Grundgesetz zu verankern. Die Eckpfeiler der verfassungsgerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sollen geschützt werden, indem man sie konstitutionalisiert.
Ergänzen sollte diese Konstitutionalisierung ein prozeduraler Schutz, der inzwischen ebenfalls in die öffentliche Diskussion gelangt ist:2) Gemeint ist damit, dass in das Grundgesetz besondere Anforderungen an Erlass und Änderung der einfachgesetzlichen Vorschriften über das Gericht aufgenommen werden sollten – etwa eine qualifizierte anstelle der einfachen Mehrheit oder die Zustimmung des Bundesrates und/oder des Plenums des Bundesverfassungsgerichts.
Inspiration bieten das französische und das spanische Recht: Die dortigen Verfassungen kennen eine – hierzulande bisher unbekannte – Gesetzesart: die sogenannten Organgesetze (loi organique/ley orgánica) oder – freier übersetzt – verfassungsausführenden Gesetze.3) Dabei handelt es sich um Gesetze, deren Änderung nur unter strengeren Voraussetzungen möglich ist. Beide Rechtsordnungen fordern eine absolute Parlamentsmehrheit sowie in Frankreich eine Kontrolle durch den Conseil constitutionnel vor der Gesetzesverkündung. Vorgeschrieben sind diese Organgesetze für Themen von besonderer verfassungsrechtlicher Bedeutung, etwa das Wahlrecht, die Verfassung der Parlamentskammern und – was uns hier besonders interessiert – die Verfassung des jeweiligen Verfassungsgerichts (Artwork. 63 franz. Verfassung; Artwork. 165 span. Verfassung).4)
Organgesetze bieten einerseits mehr Stabilität als einfache Gesetze. Andererseits droht nicht im selben Maße eine Versteinerung wie bei einer Regelung in der Verfassung, die nur mit einer verfassungsändernden Mehrheit angepasst werden kann. Wichtig ist das für Regelungsbereiche, die zwar eine besondere verfassungsrechtliche Sensibilität aufweisen, deren detaillierte Regelung aber den Umfang der Verfassung sprengen würde.
Umfang eines prozeduralen Schutzes
Die angemessene Reichweite des prozeduralen Schutzes und die Ausgestaltung der Voraussetzungen für eine Gesetzesänderung stehen in einem Wechselspiel: Je stärker der Schutz vor Änderungen des einfachen Rechts, desto geringer sollte die Reichweite des Schutzes sein. Sonst würden auch Reformen von Regelungen unnötig erschwert, die für die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Gerichts unbeachtlich sind.
Fordert man etwa lediglich die Zustimmung des Bundesrates und/oder des Plenums des Bundesverfassungsgerichts, könnte der prozedurale Schutz auf alle Fragen der Gerichtsverfassung und des Verfahrens erstreckt werden. Bedarf es für Änderungen dagegen einer 60 %- oder gar 2/3-Mehrheit, dann sollte der Schutz auf wichtige Kernbereiche der Gerichtsverfassung und des Verfahrens beschränkt bleiben. Für eine so starke prozedurale Absicherung bieten sich insbesondere an: die Vorgaben zur Richterwahl, zum Standing der Richterschaft – einschließlich Unvereinbarkeiten der Ämter, Vergütung und Amtszeit bzw. Höchstaltersgrenze –, zur Arbeitsweise und (Selbst-)Verwaltung des Gerichts – einschließlich Geschäftsverteilung, Fallmanagement sowie Organisation und Besetzung der Spruchkörper – sowie zu grundlegenden Verfahrensfragen und Zuständigkeiten des Gerichts.
Wechselspiel mit Schutz durch Konstitutionalisierung
Die Stärken des prozeduralen Schutzes liegen auf der Hand: Eine Partei oder Regierungskoalition kann Änderungen an Verfassung und Arbeitsweise des Verfassungsgerichts nicht mehr schon deshalb allein beschließen, weil sie eine Bundestagmehrheit hinter sich weiß. Eine Umgestaltung der Gerichtsverfassung und des Verfahrens bleibt aber möglich, wenn Regierung und Opposition sich auf Änderungen einigen. Die Notwendigkeit eines überparteilichen Konsenses soll dabei gewährleisten, dass Eingriffe des Gesetzgebers nicht einer einseitigen, parteipolitischen Vereinnahme dienen. Die Verfassung des Gerichts, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, soll nicht durch eine politische Kraft allein – egal ob gemäßigt oder extrem – verändert werden können.
Dieser prozedurale Schutz kann zudem gewisse Schwächen der vorgeschlagenen Konstitutionalisierung der Gerichtsverfassung kompensieren. Denn verfassungsrechtliche Vorgaben sollten schlank gehalten werden, um eine Versteinerung bei Detailfragen und ein Aufblähen der Verfassung zu vermeiden. Diese Zurückhaltung sollte auch bei den beabsichtigten Regelungen über das Verfassungsgericht berücksichtigt werden – birgt dabei aber Risiken. Denn schlanke Regelungen ermöglichen, dass der Schutzzweck verfassungsrechtlicher Vorgaben durch einfachgesetzliche Regelungen von Detailfragen, die wiederum nicht in die Verfassung aufgenommen wurden, untergraben werden.
Auch hier kann Polen als Beispiel dienen. Die dortige Verfassung enthält in Artwork. 188-197 zwar relativ umfangreiche, aber offenkundig nicht ausreichende Vorgaben für das Verfassungsgericht. So sieht Artwork. 187 vor, dass dem Landesrat für Gerichtswesen, der grundsätzlich alle Richter zur Ernennung vorschlägt, 15 Richter angehören sollen. Wie diese gewählt werden, bestimmt die Verfassung aber nicht. Die PiS-Regierung nutzte diese Regelungslücke, um eine Wahl durch das Parlament vorzusehen statt der zuvor erforderlichen Wahl durch die Richterschaft. Ein vormals weitgehend unpolitisches Gremium wurde parteipolitisch vereinnahmt.
Diese Schwäche kann der prozedurale Schutz teilweise kompensieren. Beide Ansätze – prozeduraler Schutz und Konstitutionalisierung – ergänzen einander. Ein gesteigerter Schutz des BVerfGG erschwert es, die Schutzvorgaben der Verfassung einseitig durch einfachgesetzliche Detailregelungen zu untergraben. Er ermöglicht es, Detailregelungen ins BVerfGG zu verlagern, ohne sie einer allzu einfachen Änderung preiszugeben.
Je höher die Hürde für eine Änderung des einfachen Rechts, desto geringer ist der Bedarf für eine Konstitutionalisierung. Bei einem starken prozeduralen Schutz können die Vorgaben in der Verfassung auf ein Minimal beschränkt bleiben. Das wirkt einer Versteinerung der aktuellen Gerichtsverfassung und einer Aufblähung des Grundgesetzes entgegen.
Kehrseite Sperrminoritäten und Lösungsmöglichkeiten
Es gibt eine offensichtliche Kehrseite der vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen: Je höher die Mehrheitsanforderungen, je mehr Entscheidungen die Regelung additionally einer einfachen Mehrheit entzieht, desto mehr Blockademöglichkeiten hat die Minderheit. Politische Minderheiten erhalten die Möglichkeit, die Funktionsfähigkeit des Gerichts zu gefährden, indem sie notwendige Reformen verhindern oder die Wahl von Richtern blockieren.
Besonders problematisch sind Blockaden der Richterwahl. Verlangt man eine 2/3-Mehrheit für die Wahl von Verfassungsrichtern und schreibt dies im Grundgesetz oder einem Gesetz fest, das nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden kann, dann könnte eine Minderheit dauerhaft die Besetzung von Richterposten blockieren. Für einen solchen Impasse sind Lösungsmöglichkeiten notwendig. Sie müssen nicht nur die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts gewährleisten, sondern auch die demokratische Legitimation der Richterwahl sichern.
Da Bundestag und Bundesrat je die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts wählen, könnte bei einer Sperrminorität in dem eigentlich zuständigen Wahlorgan auf das andere ausgewichen werden. Schwierig wird es allerdings, wenn in beiden Wahlorganen eine Sperrminorität besteht. Für diesen Fall wird vorgeschlagen, als Auffanglösung die Justiz beziehungsweise die justizielle Selbstverwaltung einzubinden – etwa in Type einer Wahl durch die Richter der obersten Bundesgerichte. Eine mittelbare demokratische Legitimation bestünde dann dadurch, dass die Bundesrichter ihrerseits durch den Richterwahlausschuss nach Artwork. 95 Abs. 2 GG gewählt werden, additionally durch Vertreter der Bundesregierung, Landesregierungen und des Bundestages.
Dieser Vorschlag kann sich auf Beispiele in anderen Rechtsordnungen stützen. In zahlreichen europäischen Staaten spielen Gremien der justiziellen Selbstverwaltung bei der Richterwahl eine entscheidende Rolle. Allerdings wird dort kritisiert, die Politisierung der Richterwahl werde nicht beseitigt, sondern lediglich in die Selbstverwaltungsgremien verlagert. In Polen battle sogar ein entscheidender Schritt der sogenannten „Justizreformen“, den Landesrat für Gerichtswesen parteipolitisch zu besetzen. Will man additionally in Deutschland auf die Justiz zurückgreifen, sollte bei der Gestaltung des Wahlgremiums mitbedacht werden, dass auch die Auswahl der Richter, die an der Wahl teilnehmen dürfen, ein Einfallstor für Politisierung sein kann. Bei einer Wahl durch Bundesrichter ließe sich das Downside wohl umgehen, wenn man alle Bundesrichter an der Wahl beteiligt.
Qualifizierte Wahlmehrheit als Stütze der Ausgewogenheit
Bislang hat sich die 2/3-Mehrheit für die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts bewährt. Es ist zu hoffen, dass der Gesetzgeber eine überzeugende Lösung für das Risiko einer Sperrminorität findet und an dem Mehrheitserfordernis festhalten kann. Denn es hat bisher entscheidend zur Wahl von eher gemäßigten Richtern beigetragen und die ausgewogene Besetzung des Gerichts gewährleistet. Maßnahmen zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts sollten darauf zielen, dass es auch zukünftig dabei bleibt: Unparteilichkeit durch eine ausgewogene Präsenz von gemäßigten Kandidaten aller Parteien, die sich auf dem Boden des Grundgesetzes befinden.
Dieses Ziel ist zugleich eine Warnung: Wer die Regeln zur Gerichtsverfassung gezielt einsetzt, um bestimmte politische Parteien aus dem Gericht fernzuhalten, der geht das Risiko ein, dass sich vermeintliche Schutzmaßnahmen in ihr Gegenteil kehren. Sie können dann leicht zur Stimmungsmache instrumentalisiert und als Rechtfertigung für weitere Angriffe auf die Justiz genutzt werden. Auch das sollten wir aus Polen und den USA gelernt haben.
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